2016

Glauben – Wissen – Werte

Was gibt dem Einzelnen Halt? Was hält die Gesellschaft zusammen? Was stiftet Sinn? Woran glauben wir? Und inwiefern glauben wir anders und anderes als die Menschen früherer Jahrhunderte? Es sind ziemlich grundsätzliche Fragen, die das Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte 2016 beschäftigten.

Glaubensfragen erscheinen uns in aller Regel zuerst als Gretchenfrage, nämlich als Frage nach der Religion. Religionen sind so alt wie die Menschheit selbst und unterliegen einem steten historischen Wandel. Das Charakteristische von Religionen ist nicht nur, dass sie umfassende Ideengebäude bezüglich der Herkunft und des Schicksals von Welt, Natur und Menschen entwerfen, sondern auch, dass sie in traditionellen Gesellschaften die wichtigsten Quellen von Normen und Werten darstellen. In einer religiös homogenen Gesellschaft bildet der allgemein geteilte Glaube an das Ideengebäude und die religiös begründeten Werte die wichtigste Ressource für die Stabilität dieser Gesellschaft.

Unter den Bedingungen von Multikonfessionalität, vor allem aber von Multireligiosität, kann von einer solchen einheitsstiftenden Wirkung der Religionen keine Rede mehr sein. Vielmehr werden sie zu Quellen von Spannungen, Konflikten und auch Krieg, sobald Glaubensgebäude auf Glaubensgebäude trifft. Religiöse Toleranz und Religionsfreiheit waren die wichtigsten Lehren, die in Europa aus Jahrhunderten des erbitterten konfessionellen Streits gezogen wurden. Sie besiegelten zugleich aber auch den Autoritätsverlust der Religion, weil sie ihre Antworten auf die Glaubensfragen nicht mehr verbindlich für alle durchsetzen konnte.

Hinzu kam, dass die Aufklärung begann, Zweifel zu säen. Wer fest ist in seinem Glauben, der zweifelt nicht. Doch schickte sich die Naturphilosophie der Aufklärung an, die Erklärkraft der Religionen zu unterwandern. Kann man das wirklich glauben, was Religionen zur Herkunft der Welt und des Menschen sagen? Kann man die Existenz Gottes beweisen? Und wenn sie hier irren, mit welchem Recht beanspruchen sie dann, verbindliche Normen festzulegen? Der Aufklärungsprozess mündete so in einen Säkularisierungsprozess, und zwar nicht nur, was die Erklärkraft über die Natur betraf, sondern auch die Begründung von Werten. Wir leben daher heute – zumindest ihrem Selbstverständnis nach – in einer säkularen Gesellschaft, die sich auf Werte wie Freiheit und Gleichheit stützt, die in ihren Ursprüngen vielleicht religiös sind, in ihrer heutigen Auslegung aber nicht mehr dieser religiösen Quellen bedürfen. Jenseits eines solchen Grundkonsens herrscht Wertepluralismus, so dass jeder an Jesus, Allah oder das Spaghettimonster glauben kann.

Doch weder war der Weg zu einer solchen Gesellschaft so konfliktfrei, wie es hier klingt, noch kann von einer so strikt säkularen Gesellschaft wirklich die Rede sein. Erstens füllten nach der Erosion des Religiösen andere Lehren die Leerstelle, die in ähnlicher Weise einen Alleinerklärungs- und Alleinvertretungsanspruch artikulierten. Bis in die Form und Funktionen hinein ähnelte etwa der Kommunismus erheblich einer Religion, selbst wenn er sich stets strikt antireligiös gab. Ähnlich wie das Christentum forderte er »Glaubensgelübde« und verfolgte »Häretiker«. Zweitens sind unsere Gesellschaften heute nicht so säkular, dass die Religion bloße Privatsache ist. Unsere politische Kultur, unser Wirtschafs- und Sozialsystem, ja auch unser Wertesystem wurzeln in vielerlei Hinsicht in einer spezifisch christlich-abendländischen Tradition, deren Ausprägungen und Einflüsse noch dazu in jedem europäischen Land stark variieren. Und dass mit dem Islam eine in weiten Teilen stark gelebte Religiosität in Europa präsent ist, stellt das säkulare Zusammenleben vor neue Herausforderungen. Allerdings nicht vor unbekannte, wie ein Blick auf die europäische Geschichte zeigt.

Das Rendez-vous wollte 2016 den historischen Erfahrungsschatz heben, den wir in Europa mit den vielen und auch widersprüchlichen Antworten auf die gute alte Gretchenfrage besitzen. Glaubensfragen sind in einer modernen, differenzierten und pluralistischen Gesellschaft aber eben nicht nur Gretchenfragen, schlicht, weil die Religion nicht mehr die Zentralfunktion früherer Jahrhunderte einnimmt. Glauben und Vertrauen sind aber nach wie vor der Kitt sozialen Handelns. Wir glauben daran, dass unser Geld morgen noch etwas wert ist. Wir glauben an die Demokratie, so imperfekt sie auch ist. Wir glauben an Menschenrechte. Wir glauben – auch wenn wir es nicht zugeben wollen – der Werbung (sonst gäbe es sie nicht mehr). Wir glauben gutem Journalismus, wenn wir ihn finden. Wir glauben, dass morgen noch Strom aus der Steckdose und Wasser aus der Leitung kommt. Wir glauben dem Ratgeber und dem Experten, unserer Ärztin und unseren Freunden. Ohne diese Formen eines »Grundglaubens« in Institutionen und andere Menschen könnten komplexe Gesellschaften gar nicht funktionieren. Und weil jeder beim Lesen dieser Beispiele mindestens drei Mal »Naja… aber« dachte, erhärtet es den Verdacht, dass auch dieser Alltagsglaube in einer schweren Krise steckt. Auch hier wollte das diesjährige Rendez-vous mit Blick auf die historische Dimension verschiedener Formen des Alltagsglaubens zu einer kritischen Diskussion anregen. Eine Diskussion darüber, was, woran und wem wir warum glauben.