2015

Wohin? Zukunftsvisionen gestern und heute

Hannah Arendt rühmte einmal die menschliche Einbildungskraft mit den folgenden Worten: »Es steht uns frei, die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen. Ohne die geistige Freiheit, das Wirkliche zu akzeptieren oder zu verwerfen, ja oder nein zu sagen […], ohne diese geistige Freiheit wäre Handeln unmöglich.« Der Mensch verfügt über die einmalige Fähigkeit, sich die Welt anders vorzustellen, als sie ist. Und er hat die Fähigkeit, Kommendes zu antizipieren, und zwar nicht nur den kommenden Tag, sondern auch »die Welt in hundert Jahren«. Der Mensch ist ein welt- und zukunftsoffenes Wesen. Diese Fähigkeiten haben ihn im Laufe der Jahrhunderte immer wieder dazu veranlasst, sich eine neue Zukunft auszumalen. So unterschiedlich diese Vorstellungen auch waren, zeugen sie stets auch von der Wahrnehmung der jeweiligen Gegenwart. In Zeiten von Krieg, Not und Unterdrückung fürchtet man vielleicht eine weitere Verschlimmerung, schöpft aber auch Hoffnung auf bessere Zeiten, die Frieden, Wohlstand, Emanzipation und Gerechtigkeit bringen. In solchen Zeiten der Prosperität und guten Ordnung hingegen droht ihr gradueller oder abrupter Verlust. Die Zukunftserwartungen der Menschen sind so beständig eingespannt in Hoffnung auf bessere und Furcht vor schlechteren Zeiten.

Diese Erfahrungen macht jeder Mensch im Alltag und im Privatleben. Eine besondere Bedeutung für historische wie gesellschaftliche Prozesse gewinnen diese Phänomene jedoch, wenn sie sich zu kollektiven Vorstellungen über das Zukünftige zusammenfassen und wirksam werden. Und dies ist keineswegs eine Neuerung der Moderne, wie man meinen könnte. Schon die Hoffnung auf religiöse Erlösung oder die Furcht vor Verdammnis – Paradies, Hölle, Apokalypse, jüngstes Gericht – all dies sind Zukunftserwartungen, die der Einbildungskraft des Menschen entspringen. In der Moderne bringen dann gesellschaftliche, politische, technologische oder ästhetische Utopien die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zum Ausdruck, während die sogenannten Dystopien sich eine dunkle Zukunft ausmalen. Neu ist seit dem Ende des Mittelalters auch, dass die Zukunft nicht mehr als religiöses, natürliches oder historisches Schicksal betrachtet wird, sondern als etwas, das vom Menschen selbst gestaltet werden kann. Zwar kann das Zukünftige noch immer ungefragt und außerhalb der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten über einen kommen. Aber es wächst das Bewusstsein, dass dies nicht hingenommen werden muss, sondern dass die Menschen sich durch politisches, soziales, erfinderisches und künstlerisches Tätigsein eine Zukunft nach dem eigenen Bilde einrichten können.

Leicht erwächst aus dieser Vorstellung ein utopischer Übermut, die eine vermeintlich bessere Zukunft erzwingen will. Die totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sind wesentlich auf einen solchen übersteigerten Gestaltungswillen zurückzuführen, und schon die Französische Revolution sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, dass ihr Terror die doppelte Utopie der Gleichheit und Freiheit erzwingen wollte. Auch auf technischem Gebiet erwies sich der Glaube an die Mach- und Gestaltbarkeit der Zukunft nicht immer als Segen, wie etwa die Folgen der Atomtechnik zeigen. In diesen wie in anderen Fällen holte die Wirklichkeit die Zukunftsvorstellungen schnell ein. Trotzdem haben die politischen, sozialen, technologischen und künstlerischen Errungenschaften, die wir heute fast selbstverständlich genießen, ihren Ursprung in der Vorstellung der Gestaltbarkeit der Zukunft. In jedem dieser Fälle bedurfte es Einzelner und vor allem ganzer Gruppen, die sich mit dem status quo nicht arrangierten, sondern Dinge wie Demokratisierung und Gleichberechtigung erkämpften. Zukunftsvorstellungen werden in dieser Form historisch wirksam – im Guten wie im Schlechten.

Das siebente Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte ging auf Spurensuche nach dem Zukünftigen im Historischen. Welche Zukunft malten sich die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten aus? Was davon erwies sich als weitsichtig, was als verhängnisvoll, was als abwegig, was als utopisch? Was erzählen uns die Hoffnungen und die Skepsis vergangener Generationen über die Wahrnehmung ihrer Zeit? Und was gewinnen wir bei diesen Betrachtungen, wenn wir heute an das Morgen denken? Die Vergewisserung über vergangene Zukunftserwartungen gibt uns keine oder nur wenige konkrete Antworten auf die Herausforderungen von heute. Aber sie hilft uns vielleicht, das Zukünftige realistischer zu betrachten: Gefahren zu erkennen und nicht zu überschätzen, Gelegenheiten zu identifizieren und sie zu ergreifen. Vielleicht hilft uns die Betrachtung vergangener Zukunft dabei, zu verhindern, dass Karl Valentins Spruch zutrifft: »Die Zukunft war früher auch besser!«